Von Friedel Freitag

Wie schon in den vergangenen Wochen, scheint an diesem Tag die Sonne. Es ist Mitte Juni, und schon jetzt liegen die wenigen Flecken Grün in der Stadt verdorrt, verbrannt da. Ich kann mich nicht mehr an den letzten Regen erinnern. War es im Mai, oder im April?

In den vergangenen Wochen hat sich die Dürre zugespitzt. Überall begannen Wälder zu brennen. Heiß war es zwar nicht, aber sonnig und windig. Ideale Voraussetzungen für Buschfeuer. Doch jetzt, ich fahre gerade durch meine Stadt, sieht es zum ersten Mal nach Regen aus. An einer roten Ampel wartend beuge ich mich übers Lenkrad, um in den Himmel zu sehen. Er ist tiefgrau. Das gab es wirklich lange nicht mehr.

Zugleich spüre ich unmittelbar, wie mich das Grau müde macht. Es raubt mir Kraft. Und das obwohl ich weiß, dass ein anständiger Regen das ist, nach dem Bäume, Büsche, Felder so dürsten. Versonnen gebe ich Gas, als sich die Autos vor mir in Bewegung setzen. Wie in Trance durchkreuze ich die Stadt, nehme die Gabelungen, bis ich in meinem Viertel angekommen bin. Jetzt muss ich nur noch einen Parkplatz finden, verdammt! Warum ist das hier immer so schwierig. Altbauviertel, Blockrandbebauung – schön und gut, aber wo kann mein Wagen parken? Ein Regentropfen landet auf der Windschutzscheibe. Pop – das Geräusch elektrisiert mich. Oh Gott, eine rote Ampel! So ein Mist, ich gehe in die Eisen. Vollbremsung, die Reifen quietschen. Mein Handy fliegt vom Beifahrersitz. Kurze Stille. Und dann: Dotz!

Der Aufprall gibt mir einen Stoß, ich werde kurz in den Sitz gedrückt. Aber nur kurz, schon vorbei. Es ist wieder leise.

Ich bin verdutzt, was ist geschehen? Vorsichtig schaue ich nach vorn. Rechtzeitig vor der Fußgängerampel kam ich zum Stehen, überfahren habe ich auch niemanden. Gott sei Dank. Ein Auffahrunfall ist für den angefahrenen nicht schlimm. Er trägt nie Schuld, erinnere ich mich an die Worte meines Fahrlehrers. Das ist schon lange her, wie hieß er nochmal?

Es klopft an der Scheibe der Fahrzeugtür. Als ich die bullige Gestalt sehe, die mich grimmig mit ihren in tiefen Höhlen verschwindenden Augen fixiert, bekomme ich einen Schreck. Ich atme tief durch. Höflich sein.

Das Fenster surrt hinab. „Bin dir hintendruff gefahren“, sagt der Mann. „Scheiße ey, so ne scheiße“.

„Das ist ihre Schuld“, stammle ich, und bereue meine Worte sofort. „Ja da haste gut reden. Hätteste nich so abrupt gebremst, wäre ich dir nich druffgefahren. Aber ich weiß ja, der der auffährt hat immer Schuld.“ Das penetrante Aftershave des Mannes zieht durch das offene Fenster und brennt in meinen Augen. Er ist von kräftiger Statur. Über seinen bulligen Körper spannt sich ein offenes, hellkariertes Hemd. Unter den Armen zeichnen sich große Schweißflecken ab.

„Genau, wer auffährt hat immer Schuld.“ Eingeschüchtert beschließe ich ihm recht zu geben, solange mir das in die Karten spielt. Mittlerweile hat es zu regnen begonnen. Mein Unfallgegner nimmt mit einem verkniffenen Blick in den Himmel Notiz davon.

„Nu kucken wa uns das Drama ma an, watt?“, grummelt er. Abschnallen, Tür öffnen, Tür schließen. Ein Blick auf das Heck, das eine große Beule ziert. Der Stoßfänger ist eingebeult. Am Auto des Mannes ist nichts zu sehen. Als er meinen ungläubigen Blick sieht, grinst er mich an. „Ja da staunste was? Das ist eben noch echte Wertarbeit, ein gutes deutsches Auto!“ Er tätschelt den Kotflügel seines schwarzen SUV auf intime Weise. Das reicht an Liebe, denkt er sich bestimmt. „Aber weißte, ich werd mal nicht so sein. Ich geb die Schuld meiner Versicherung zu, kann ja nicht jeder so ein solides Auto haben wie ich.“ Er lacht mich an, seine Zähne sind gelb. Er begutachtet zuerst den Schaden an meinem Auto, dann das Auto allgemein. Neben uns schlängelt sich der Verkehr vorbei, es ist eng. Mittlerweile hat sich ein kleiner Stau gebildet. Scheibenwischer tanzen hektisch im stockenden Verkehr. Schaulustige beäugen uns – versteckt unter ihren Regenschirmen. Im Fenster eines alten Mietshauses mit bröckelnder Putzfassade beobachte ich eine alte Frau, die es sich mit einem Kissen am Fenster bequem macht.

„Ist dat n Japaner?“ Der Mann ist noch immer mit meinem Auto beschäftigt. „Ein Italiener“, sage ich. „Achso“, er nickt verständig. „Dachte ich mir schon“. Mit dem aufgesetzten Blick eines Sachverständigen geht er um den Wagen herum. „Baujahr?“, fragt er. Ich antworte. „Muss bestimmt viel gemacht werden dran, oder?“ Ich schüttel den Kopf. Mein Auto hat erst vor kurzem neuen Tüv bekommen. Wieder steht der Mann zwischen seinem und meinem Auto und begutachtet mein Heck. „Das war doch vorher schon echt im Arsch“, murmelt er. Stimmt nicht, sage ich ihm. Alles gut. Klar, ein paar Kratzer, aber das ist bei einem 20 Jahre alten Auto nicht verwunderlich.

„Der deutsche Autofahrer ist die Melkkuh der Nation“, fängt er sich plötzlich an zu ereifern. „Hm?“, sage ich. „Die wollen es uns verbieten, das Auto wollen die uns klauen. Dir und mir.“ Von grimmig wechselt sein Ausdruck zu stutzig. Dann huscht ihm ein fieses Lachen übers Gesicht. „Die da oben sind noch schlimmer als die Polen!“ Er lacht heiser auf. „Wie?“, frage ich. „Na, weil die Regierung will uns doch unsere Autos klauen. Ökowahn. Aber…“ er sieht mich verschmitzt an, voller Erwartung meiner Reaktion, erfreut über seinen eigenen humoristischen Geistesblitz, „die Autos klauen uns doch sonst nur die Polen!“ Er lacht wieder heiser auf. „Ich denke, wir sollten die Polizei rufen“, sage ich.

„Wie, dat war doch nurn Witz. Sind se etwa von Polen. Es gibt auch vernünftje. Mein Nachbar hat zum Beispiel n Handwerker, der…“

„Nein, damit die Polizei den Unfall aufnehmen kann“, unterbreche ich ihn.

„Jut, alles mit seiner Ordnung“. Sofort nimmt er Haltung an. Das Haar des Mannes sieht aus, wie eine gebadete Katze. Aus einem aufwändig gekämmten Haupt, wurde lichtes Altherrenhaar, plattgedrückt von dem ersten Regen seit Wochen. Dass es nochmal regnet, dachte ich belustigt, damit haben wohl auch seine Haare nicht mehr gerechnet.

Bis die Beamten kommen, sitzt der Mann in seinem Auto. Er hört dabei laut Musik, nur unterbrochen von den Stationsansagen eines Privatradios. Er tippt auf seinem Handy rum. Fasziniert begutachte ich ihn, gehe um sein sehr großes Auto herum. Auf der Rückbank liegt ein Jackett, noch in Folie, aus der Reinigung. Am Heck des Wagens entdecke ich Aufkleber. Bayern-Fan ist er wohl. Und er mag Umweltschutz nicht. „Nimm das, Greta!“, steht in absurd verzogenen Lettern über dem einen der beiden Auspuffrohre des schwarzen Autos.

Mittlerweile nieselte es nur noch, mein Haar trieft dennoch vor Wasser. Es nähert sich ein Streifenwagen. „Ah, mein Freund und Helfer. Da isser ja.“, höre ich meinen Unfallgegner noch rufen, da springt er schon eilfertig aus seinem Wagen. Die beiden Polizisten begrüßen uns mit einem Tippen an ihre Mütze. Offensichtlich zwei altgediente Landesbeamte, die man – kurz vor der Pensionierung – besonders gern zur ordnungsgemäßen Aufnahme kleinerer Unfälle schickt. Der SUV-Fahrer salutiert übereifrig militärisch vor den Beamten.

Die Polizisten nehmen davon keine Notiz. „So bevor wa hier wat aufnehmen, müssen Sie erstmal die Fahrbahn beräumen“, sagt der eine Uniformträger in monotonem Tonfall. Der SUV-Fahrer schaut ihn verdutzt an. „Wir sollen zur Seite fahren“, übersetze ich ihm. „Natürlich“, sagt er und springt hinter das Steuer seines Wagens.

Nachdem ich mein Auto auf einen Radweg gefahren habe, steige ich aus. Mein Unfallgegner hat seinen Wagen noch nicht von der Stelle gerührt. Er wirkt gestresst, hektisch wedelt er immer wieder mit seinem Schlüssel durch den Innenraum des Wagens, schreit seine volldigitale Mittelkonsole an. Feine Schweißtropfen stehen ihm auf den Schläfen. Er drückt wieder und wieder auf den Startknopf des Motors. Nichts. Ich klopfe an die Fensterscheibe seiner Fahrertür. Erst jetzt nimmt er Notiz von mir. Mit aufgerissenen Augen und Stressflecken im Gesicht starrt er mich an, macht die Tür auf. „Multipler Sensorschaden. Unklare Thermostatik, plötzlicher Druckabfall in allen pneumatischen Apparaturen. Ich bin ruiniert“, stammelt er. „Und das nur wegen dem kleinen Rumms!“

Einer der beiden Polizisten nähert sich. Es ist der eine mit Schnurrbart. „Na, will ihr Wagen nicht?“

„Aber Herr Wachtmeister, sie müssen verstehen. Das war alles seine Schuld.“ Er deutet auf mich. Die Schweißflecken unter seinen Achseln sind deutlich größer geworden.

„Na, dit bezweifel ich. Sie sind ihm doch hintendruff gefahrn“, entgegnet der Polizist ohne Schnurrbart. Anklagend wendet sich mein Unfallgegner dem Himmel zu: „Die Reparatur, sie kostet mich Zehntausende, das verzeiht mir Sylvia nie!“, schreit er. Peinlich berührt schaue ich zum Polizisten neben mir. Er hat plötzlich eine Zigarette im Mundwinkel. „Jaja, der deutsche Autofahrer. Die Melkkuh der Nation“, grummelt er. Um uns herum herrscht Stille. Regen setzt wieder ein. Der erste Tropfen erlischt die Zigarette des Beamten. Ein Donner zerreißt die gespannte Ruhe vor dem einsetzenden Sommergewitter.


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