von Moritz Fischer
Eines Morgens schalte ich das Radio ein, koche einen Kaffee und esse einen mehligen Apfel. Ich schaue aus dem Fenster auf die Straße und sehe Menschen, eingepackt in Daunenjacken, die sich gegen den Wind, der die Straße hinaufweht stemmen. Bei manchen Passanten flattert das Haar. Im Radio geht es um das Übliche. Üblich, das heißt es geht um Krieg. Genauer gesagt, um den Krieg der bald kommen wird dem zugeschalteten Gast zufolge. Er redet vom vielleicht letzten Sommer in Frieden. Diese Worte schockieren mich schon längst nicht mehr, nein, sie fallen sachte in meine Ohrmuschel, und sinken in den Gehörgang nieder.
Die Worte sind wie Samen, die sanft in mein Hirn gelangen. Dort bleiben sie eine Weile vergraben, bis sie zweifelhaft aufgehen und mir Bauchschmerzen machen. Krieg also. Was würdest du tun, wenn Krieg wäre? Die Frage diskutiere ich derzeit mit allerhand Freunden immer wieder. „Aber das wird ja ohnehin nicht passieren, da bin ich mir sicher“, sage ich dann immer abschließend. Dabei bin ich mir nicht mehr sicher. Eine alte Aufteilung der Welt hat sich überlebt, eine neue Aufteilung formiert sich gerade erst. Und sicher ist, Völkerbund, Generalversammlung und Arbeiterstaaten spielen in dieser neuen Welt wohl kaum eine Rolle. Vielmehr scheint es zur Zeit so, als seien es lokale Faschismen, die vereinbaren, wer wo was mit wem machen darf. Krieg.
Als die deutsche Armee im Sommer 1941 die Sowjetunion überfiel, konnte Stalin nicht glauben, dass die Deutschen das wirklich tun – er hat es ihnen schlichtweg nicht zugetraut. Dementsprechend unvorbereitet war auch die Rote Armee. Sind wir in diesem „letzten Sommer im Frieden“ alle der gutgläubige, verträumte aber auch jähzornige Stalin, frage ich mich. Der Apfel hat schon eine braune Stelle, ich esse um die Stelle herum. Der Kaffee wird viel zu schnell kalt. Das Land hat nie aufgehört Panzer zu bauen, aber jetzt will es wieder in die Vollen gehen. Straßenbahnfabriken werden zu Munitionsanlagen. Ein VW-Werk geht an Rheinmetall. Der letzte Sommer im Frieden.
Und da gibt es dann nur die eine Entscheidung, so wird es erzählt im Radio. Erkennst du die Bedrohung von Freiheit und Recht an und schnallst den Gürtel enger für mehr Panzer oder verabschiedest du dich aus der Realität und wirst Speichellecker der bösen Mächte des Ostens. Ich kriege Beklemmungen. Weder, noch! Möchte ich hinausschreien in die Welt. Will mich nicht verheizen lassen, nicht in feuchter, polnischer Erde auf ewig für Vaterland und Artikel fünf gefallen sein – will aber auch nicht in einer Welt leben, in der die Schulhofrowdys den Ton angeben. Vermessen scheint da der Wunsch nach dem Guten, das sich durchzusetzen vermag und wehrhaft ist nicht gegen die Völker des Ostens sondern gegen die Ausbeuter, die es überall gibt auf der Welt. Auch in deiner Stadt.
80 Jahre Frieden, das ist Grund zum Feiern. Doch der Lack ist ab. Die Heimat von Milliarden Menschen wird in den nächsten Jahrzehnten unbewohnbar werden, gigantische Landstriche schlicht austrocknen, Katastrophen zunehmen. Wir, die zu spät geborenen, leben in einer Welt im Niedergang. Und wie zum Hohn machen sich die Herren der Welt daran, diesen Niedergang durch eigenes Zutun zu beschleunigen. Der Eine will Osteuropa, der Andere Grönland und Kanada. Überall auf der Welt werden wir die Leidtragenden sein. Wir, die eine Zukunft haben aber selber nicht dran zu glauben wagen. Der Kaffeesatz schmeckt bitter, im Radio läuft ein Pop-Song. Auf der Straße zeichnet die hervorgekommene Sonne harte Schatten auf den Asphalt. Ich muss lächeln. Im Hier und Jetzt habe ich noch Glück.
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